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Das Reptiliengehirn 2.1

Ein Gedanke zum Freitag.

Ich vermisse seit längerer Zeit das Soziale an den sozialen Netzwerken. Überall umsatzsteigernde Maßnahmenversuche (kurz: Werbung) für Dinge, die ich nicht brauche oder will. Selbst berufliche Netzwerke verkommen immer mehr zum lokalen internationalen Marktplatz. Neues Auto mit Blabla jetzt bei Tralallala mit Cash-Back oder sonstirgendeiner Prämie. Shitstorms und lästernde (eifernde?) Beiträge die sich in kaskadierenden Diskussionen der Kommentarfunktion abspielen. Egal wohin man schaut, überall wird gemotzt, schlechtgemacht, gerechtfertigt. Aber warum eigentlich?

 

Meine erste Arbeitshypothese dazu ist die Folgende: Wir müssen darauf achten, mit wem wir uns vernetzen und zu welchem Zweck. Genauso, wie ich nicht jedem meine private Telefonnummer gebe, muss ich auch nicht jede Vernetzungsanfrage annehmen und muss ich auch nicht jeden Hirnfurz in diesen Netzwerken kommentieren oder gar selbst dazu beitragen. Das erfordert natürlich eine gewisse Zurückhaltung, muss ich zugeben, weil es einen doch immer öfter unter den Fingernägeln brennt, wenn man diverse Beiträge mitverfolgt. Bei einer realen Diskussion, sofern sie nicht auf einer öffentlichen Kundgebung auf der Bühne passiert, ist die Gruppe der Empfänger meines etwaigen Unmuts allerdings beschränkt und oft genügt es, wenn man sich einem Freund oder einer Freundin gegenüber kurz Luft macht und dieses Bedürfnis vorher ankündigt, damit die ganze negative Energie nicht auf mein Gegenüber überschwappt (Corona-Tipp!). 

 

Damit wären wir auch schon bei Arbeitshypothese nummer Zwei: Die Menschheit wäre grundsätzlich sozial orientiert. Hat aber einen immensen Mitteilungsbedarf. Und dank Socialmedia die Möglichkeit, sich rund um die Uhr und zu jedem Thema einfach öffentlich auszukotzen. Aber mal Hand auf Herz – und Pandemie hin oder her – haben wir vergessen, wie man sich benimmt? Haben wir vergessen, wie das war, als man sich noch persönlich getroffen hat und wohl überlegt, was man sagt, zu wem und in welchem Tonfall? Früher war es ein Privileg, den Geburtstag eines lieben Menschen zu wissen, oder eines Geschäftspartners. Heute erinnern Facebook und Xing (nicht unpraktisch, zugegeben), weil wir den Fokus verloren haben. (Exkurs: das ist übrigens ein Datum das ich ungern in ein (a)soziales Netz übertrage und daher aus Prinzip auf Facebook jedes Jahr am 1. April so einige Leute in die Irre führt…).

 

Im Internet also verfolgt eine unendliche Menge anderer Menschen, zeitunabhängig, was ich von mir gebe. Ohne meine inneren Beweggründe zum jeweiligen Zeitpunkt zu kennen (oder kennen zu können), weil sie waren schlichtweg nicht da sondern nur online. Und ich kann die Auswirkungen meiner dokumentierten Reaktion unmöglich abschätzen. Sonst würde ich sie mir wohl verkneifen. Aber hier siegt leider unser Reptiliengehirn.

 

Ich glaube trotzdem, dass jeder einzelne Mensch einen positiven Beitrag (insbesondere durch mehr reflektierte Beiträge) leisten kann, auch wenn sich innendrin gerade Flucht-oder-Angriff abspielt. Wie? Ein Anfang wäre getan, sich 20min Bedenkzeit zu gewähren, bevor man auf den Senden-Button drückt. Oder einen Mitmenschen zu bitten, es querzulesen. Die Hitze des Gefechts abwarten. Bestimmt haben Sie schon einmal gemerkt, dass einem die besten Argumente nicht in einer Auseinandersetzung sondern erst danach (meist zu spät) einfallen. Auch das hat mit der Funktion unseres lieben Gehirns zu tun und die Suchmaschine Ihrer Wahl hält hier weitere Informationen parat.

 

Ideal wäre es natürlich, sich grundsätzlich auf Kommentare zu beschränken, die bei den Empfängern einen Mehrwert auslösen. Ein Mehrwert ist nicht das Wissen über eine Aktion bei Diskonter soundso, sondern ein Mehrwert ist oft etwas ganz Subtiles wie ein Lächeln, ein gutes Gefühl, eine wertschätzende Mitteilung, eine Information die tatsächlich einem großen Teil meiner Empfängerschaft von Vorteil ist. Das kann auch ein gutgemeinter Rat oder – mein Favorit – eine konstruktive Kritik sein. Denn wie sollte man sich jemals weiterentwickeln, wenn einem kein Mensch sagt, was Sache ist. Aber. Und das ist der springende Punkt: der Ton macht die Musik.

 

Dieser Ansatz ist keineswegs neu. Sowohl in der Apologie des Sokrates gibt es die drei Siebe (Wahrheit, Gutes, Notwendigkeit) und auch Rumi spricht von den drei Toren, durch die ein Mensch seine Worte lenken sollte: Sind die Worte wahr? Sind die Worte notwendig? Sind die Worte freundlich?

Da es damals noch keine permanent verfügbaren Marktplätze für Meinungsäußerungen („soziale Netzwerke“) gab, würde ich dem eigentlich nur hinzufügen wollen, dass auch der gewählte Kanal von großer Bedeutung ist. Eine persönliche Nachricht, so radikal das Feedback auch sein mag, ist immer noch wertschätzender als eine öffentliche Kundgebung von Dingen, die schlecht gelaufen sind.

 

In diesem Sinne, und nach reiflicher Überlegung teile ich diesen Beitrag also nun mit meinem Netzwerk, und bin gespannt, was passiert.

Abkürzung:

Darf es mehr sein?